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Der rote Faden ist aus Wolle

Klassentreffen sind ja Anlässe, um über ehemalige Schulkolleginnen und -kollegen zu staunen (oder vielleicht auch, um sich über einige von ihnen zu wundern). An meiner Klassenzusammenkunft im vergangenen Herbst konnte ich über meine frühere Klassenkameradin Angela staunen, die mir von ihrem philanthropischen Projekt auf Sinai erzählte. Zusammen mit einer Freundin würde sie Beduinen das Stricken beibringen, im Rahmen ihrer alljährlichen Aufenthalte im Süden der Halbinsel. Beduinen würden nämlich nicht nur unter der Armut leiden, sondern auch unter der Winterkälte, der mit dort hergestellten Strickwaren begegnet würde. «Lismi-Projekt Sinai» heisse ihr Engagement.

Wie man sich täuschen kann …

Diese faszinierenden Informationen hatte ich noch im Hinterkopf, als ich am 30. Dezember 2017 in der Neuen Zürcher Zeitung einen Artikel von Rolf Dobelli, dem Hohepriester des «Richtigen», las. «Mentale Katastrophenhilfe» lautete die Überschrift seines Beitrags, und die Kernsätze darin lauteten: «Wenn Sie mithelfen wollen, das Leiden auf diesem Planeten zu verringern, spenden Sie Geld. Ausschliesslich Geld. Reisen Sie nicht ins Krisengebiet, ausser Sie seien von Beruf Notärztin, Bombenentschärfer oder Diplomatin.» Da Angela keinen dieser Berufe ausübt, gab’s bei mir Klärungsbedarf. Ich suchte das Gespräch mit Angela und ihrer Freundin Heidi, das mir spannende Einsichten ermöglichte.

Empathie mal Stärken mal Pragmatismus macht Philanthropie

Als Heidi mit einer Touristengruppe in Begleitung von Beduinen durch den Sinai reiste und das Dorf Nuweiba am Golf von Aqaba besuchte, strickte sie zwischendurch und weckte mit dieser dort gänzlich unbekannten Tätigkeit das Interesse des Beduinen Ayed. Er wolle auch stricken lernen, wo sie doch so oft frieren würden. Eine Projektidee war geboren, und ihm Jahr darauf reiste Heidi – diesmal mit Angela – nach Nuweiba, nun mit richtig viel Wolle und Stricknadeln ausgestattet. Nicht nur der moseshafte Ayed begann zu stricken. Auch viele, vor allem junge Beduininnen erwiesen sich als lernbegierige und begabte Strickerinnen, welche Pulswärmer, Socken, Mützen, Babyfinkli etc. für ihre Bedürfnisse herstellten.

Elf Jahre sind das nun her. Jährlich unterrichten die beiden Aargauerinnen während ihren zweiwöchigen Reisen an den Golf von Aqaba Beduinen im Stricken. Seit 2011 sind diese Einsätze viel schwieriger geworden; und immer anspruchsvoller werden die humanitären Komponenten. Längst geht es nicht mehr «nur» ums Importieren von Stricktechnik und von Wolle und Stricknadeln («capacity building» würde das im Fachjargon heissen). Immer wichtiger ist das Mitbringen von Sanitäts- und Verbandsmaterial für die Beduinen. Dabei bleibt aber das Stricken das Hauptthema. «Der rote Faden ist aus Wolle», sagen Angela und Heidi.

Nichts ist gradlinig, alles im Fluss

Im Verlauf des Gesprächs wird klar, dass die Beduinen von Nuweiba den beiden ans Herz gewachsen sind, und dass deren hartes Schicksal sie berührt. Vom Aufenthalt im Sinai im vergangenen Februar sind Angela und Heidi noch nachdenklicher als früher zurückgekehrt. Aber: «Unsere Liebe zu den Menschen ist stärker als die Angst.» Das Strahlen der jungen Beduininnen bei Lernbeginn ist ihr Erfolgserlebnis, die Dankbarkeit der Beduinen ihr Lohn.

Wie geht es weiter mit dem «Lismi-Projekt Sinai»? Das logistische Hauptproblem von Angela und Heidi ist momentan, die etlichen gesammelten Kubikmeter Wolle von ihrem Lager in Seon nach Sharm el-Sheikh fliegen und von dort zu den Beduinen in Nuweiba transportieren zu lassen. Und es bleibt die bange Frage, wann und unter welchen Umständen sie ihre nächste Reise zwecks «Hilfe zur Selbsthilfe» antreten können.

 

Kontakte: Angela Keller-Domeniconi (angela-keller@bluewin.ch) wohnt in Birmenstorf, Heidi Aeby Gretener (heidi.aeby@yetnet.ch) in Seon.

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